Selten sind
Werke in unserem Jahrhundert über die Uraufführung hinaus so oft nachgespielt
worden wie Aribert Reimanns "Lear". Wurde auch anfangs kritisch vermerkt, dass die Musik im schlechten
Sinne "Hörspielmusik" sei, so hat sich gerade hier bei näherem Hinhören
und Hineinlesen in die Partitur gezeigt, dass die Kraft des Werkes in
der Komposition liegt und es auch dem Librettisten Claus H. Henneberg
nicht darum ging vordergründig Stück zu sehen, so streng
er sich trotz aller notwendigen Kürzungen an das Original bzw. seine unromantische,
harte und klare Übersetzung von Eschenburg gehalten hat. Das gemeinsame
Anliegen war, einen heute gültigen Opernstoff zu finden: Henneberg hat
in feinsinniger Weise erkannt, was die Musik sagen kann und was beim Wort
bleiben muß.
Konsequenterweise vertont auch Reimann den Text im Sinne von "componere"
erst in dem Moment, wo das Wort den inneren Zustand des Lear nicht mehr
ausreichend charakterisieren kann. Die ersten Worte der Reichsaufteilung
unter seinen Töchtern sind auf einer Tonhöhe in teilweise freien Rhythmen
geschrieben, und in dem Moment, wo die Aufteilung bekanntgegeben ist,
beginnt der Weg der Menschwerdung des Lear: hier setzt auch die Musik
ein und umkreist ihn. Die "Verstrickung" in seinen eigenen Irrtum, dass
er Liebe mit Machtvergabe erkaufen und dabei die lästigen Pflichten der
Machtausübung abgeben kann, ist der Anfang eines Leidensweges, den er
antreten muß, um im schweren Prozeß der wahnsinnigen Erkenntnis einsichtig
und menschlich zu werden. Diese Einsatzmusik der tiefen Streicher wird
im Stück ein Teil von Lear und haftet an ihm zunächst als innerer Klang,
der sich mit seinem Wahnsinn - so, wie dieser nach außen deutlich wird
- auch nach außen kehrt und zum Sturm wird. "Schlaf" und "Sturm" stehen
als Eck-Begriffe für diesen Vorgang. Der Einsatz dieser "Sturm-Reihe"
geschieht fast unmerklich im 6. Kontrabaß auf dem Tone "es", nachdem Lears
zweite Tochter Regan auf seine Worte mit einem "Schluß der Heulerei" reagiert.
Durch Vierteltöne gewinnt Reimann die Möglichkeit, für die Charakterisierung
der inneren Auflösung seines Machtstrebens und zur Darstellung der größten
Einsamkeit in einem vielstimmigen Dröhnen eine rotierende Klangschicht
von 2 x 24 Tönen über 7 Oktaven aufzubauen. Der Sturm wird aber nicht
als aüßeres Ereignis dargestellt, Lear beginnt nach Innen zu sehen und
seine bisherigen Taten werden ihm bewußt.
Lears Wahnsinn gibt dem Komponisten die Chance, die Frage nach der Einsamkeit
von Menschen, die Macht benutzen zur musikalischen Gestaltungsmöglichkeit
zu machen. Nach der erschreckenden Einsamkeit der Sturmszene wird der
Menschwerdungsprozeß durch die Vereinfachung der musikalischen Strukturen
ausgedrückt und führt über das sensitive Baßflöten-Zwischenspiel der inneren
Einsamkeit mit gleichem musikalischen Material zum Schlußmonolog. Dieser
endet mit Lears Wort "seht...", nachdem er selbst sehend geworden
ist. Auch wenn der Schluß durch andere Personen verdeutlicht, dass Macht
mit Menschlichkeit eine Illusion bleibt, zeichnet das Orchesternachspiel
die Vision einer neuen Welt, ein "Aufsteigen in den Kosmos". Logischerweise
wird dazu kein neues musikalisches Material eingeführt, sondern diese
Vision ergibt sich aus der Veränderung der Sturmreihe als Ergebnis der
menschlichen Veränderungen in Lear.
Die Worte Lears in seinem Erkenntnisprozeß, "Wir kommen weinend auf
die Welt, weil wir auf diese Narrenbühne mußten", sind nicht nur Wortverbindung
zu seinem Narren, den er so lange braucht, wie er selbst nicht närrisch
(wahnsinnig) geworden ist. Reimann zeichnet hier, als Konsequenz zum musikalischen
Vorgang bei Lears Tragödie, den Narren als einzig Wissenden und Sehenden
von Anfang an mit fast nostalgischer Zwölftönigkeit, die ein Streichquartett
vorträgt. Und so, wie seine Narrenrolle immer weniger notwendig wird,
vereinfacht sich seine Musik ebenfalls im gleichen Masse.
Seine fast kinderliedhaften Gesänge werden am Schluß des ersten Teils
vom Streichquartett fast homophon begleitet. Der Narr kann seine Narrheit
ablegen. In diesem Moment steht seine Einfachheit als Kontrast zu zunehmender
Verwirrung der anderen Figuren. Aber ein Wahnsinniger braucht keinen Narren
mehr. Er verstummt.
Lear fordert für die Reichsaufteilung seine drei Töchter auf, ihre Liebe
gegenüber ihrem Vater auszudrücken. Zur Heuchelei und zum Zweckdenken
erzogen, antworten sie nun.
Goneril, als älteste Tochter, beginnt mit dem Bewußtsein um ihr Recht
als Älteste, wohl aber auch wissend, dass die größte Zuneigung des Vaters
seiner jüngsten Tochter gehört. Die musikalische Charakteristik ist hier
aber trotz Übertreibung der Liebeserklärung deutlich. Goneril hat ganz
starre und feste Machtabsichten, hat die Brutalität am Hofe ihres Vaters
ganz zu eigen gemacht. So sind die musikalischen Mittel die Härte großer
Intervallsprünge, Schärfe des Ausdrucks, meißelnde Schläge von Akkordblöcken
und Schlagzeugeinwürfen. Ihrer gradlinig-bösartigen Haltung entspricht
auch, dass sie ihre Schwester Regan vergiftet, sich von ihrem feigen Mann
Albany trennt (eine zwiespältige, opportunistische Figur, der am Schluß
durch immer abwartende Haltung die Möglichkeit zur Macht offensteht),
wenn sie glaubt, dass ein anderer ihr mehr Macht bringen wird. Sie hat
nach dem Fehlschlag ihrer Pläne auch die Kraft, sich selbst umzubringen,
weil sie nur ihrem Machtstreben nach gelebt hat.
Die zweite Tochter Regan kann nicht mit den Rechten der Ältesten rechnen,
sondern muß ständig versuchen, Ihre brutal-gradlinige Schwester zu übertrumpfen.
Die Nervosität, die Macht durch einen Fehler oder durch eine Nachgiebigkeit
zu verspielen, wird zur musikalischen Charakteristik. Ihre Stimmführung
- große Virtuosität verlangend - ist gekennzeichnet von kleinen, unruhigen
Melismen, Vorschlägen, zersplitterten Tonfolgen, die bewußt die mehr statischen
Gesänge von Goneril übertreffen wollen. Das Orchester nimmt diese Hysterie
mit schneller Holzbläser-Melismatik und Ponticello-Farben der Streicher
auf. Ihre ewige Angst um den Machtverlust macht sie noch brutaler als
ihre Schwester, sie erhöht die von Goneril verhängte Strafe für Lears
Getreuen Kent, drückt Gloster selbst noch das zweite Auge aus, als ihr
brutaler, skrupelloser Mann Cornwall von einem mit Gloster fühlenden Knecht
erschlagen wird, nachdem Cornwall Glosters erstes Auge ausriß.
Auffallend ist, dass fast alle Szenen mit Regan und Goneril in ungeraden
Taktarten stehen; ebenfalls alle Szenen, in denen die Wirkungen des Handelns
beider Schwestern spürbar werden. Lediglich bei ihrem Duett ergibt sich
eine Scheinharmonie in gerader Taktart, indem sie gegenseitig Glaubhaftigkeit
vortäuschen wollen. Reimann zeichnet aber deutlich, dass sich die Ziele
der Schwestern nur solange annähern, wie eine von der anderen glaubt,
die Hilfe noch zu brauchen. Die Tonfolgen des nahezu historischen Racheduetten
folgenden Formmodells treffen einander nie ganz und sind rhythmisch stets
versetzt. Lediglich bei den Worten "Der Vater, der mit seiner Säuferhorde
uns immer noch Gehorsam abverlangt, der uns zur Last fällt, den jagen
wir davon" treffen einander Töne und Rhythmus wirklich. Bei "Wir starken
Schwestern" entzweien sich die Stimmen schon wieder, das Ende ahnen
lassend.
"Wer Fehler entdeckt, wird am Ende verlacht", singt die jüngste
Tochter Lears, Cordelia. Sie handelt wie viele junge Menschen heute, verweigert
sich einfach und bietet damit keine ernstzunehmende Gegenposition. Ihre
Sprachlosigkeit deutet sich nicht nur in ihrer Antwort auf Lears Frage
nach der Tochterliebe an, von der Lear die Machtverteilung abhängig macht.
Nach der Verstoßung durch den Vater versucht sie sich auszudrücken, und
Reimann gestaltet die Worte "Wenn ich die glatte Kunst zu reden nicht
verstehe, bin ich froh" als hilfloses Stammeln. In den anderen Szenen
erhält Cordelia gemäß ihren menschlichen Einsichten eine lyrisch abgerundete
Musik, die ihrer subjektiven Ehrlichkeit entspricht. Dass sie schließlich
als Eroberin zurückkommt, nimmt weder auf den hier gezeigten Handlungsverlauf
noch auf ihre Charakterisierung einen wesentlichen Einfluß, da sie selbst
Opfer wird. Sie erscheint vor allem als mögliche Eretterin Lears. Dort
liegt auch die innere Verwandtschaft zu Edgar, dem ältesten und ehelichen
Sohn von Gloster, einer zentralen Figur der fast als Spiegel zu bezeichnenden
Parallelhandlung.
Edgar und Cordelia nehmen die Erniedrigungen und Demütigungen auf sich.
Dadurch wird erklärbar, warum - indem sie dieses Kreuz auf sich nehmen
- die Reihen, die Reimann dafür gefunden hat, einander in Kreuzform entsprechen
und auch mit dem anderen Menschen, der die Last seines Königs trägt, dem
Narren, verwandt sind. So ist es folgerichtig, dass diese Reihe als Cluster
auftaucht, wenn Lear zu der Erkenntnis kommt: "Um mich ist es kalt
geworden." Er fängt an, seine Last bewußt zu tragen.
Edgar wird wie Cordelia von seinem Vater verstoßen, weil sein Halbbruder
Edmund ihn auf die billigste Weise verleumdet und der Vater in seiner
gekränkten Eitelkeit die Verleumdung ungeprüft glaubt. Er flüchtet sich
in einen (gespielten) Wahnsinn. Um dies artifiziell auszudrücken, verlangt
Reimann für diese Szenen die Lage eines Counter-Tenors; damit wird das
Künstliche dieses Wahnsinns deutlich. Hier spielt der klangliche Reiz
eines orientalischen Muezzin mit herein. Edgar drückt dieses bewußte Spielen
mit dem Wahnsinn aus, indem er sagt: "Habe ich mein Leben retten können,
nahm ich ärmlichste Gestalt an." Beim Aufeinandertreffen mit Lear
findet sich ein sofortiges Verständnis zwischen diesen Formen des Wahnsinns.
Lear erkennt ihn als "das Geschöpf an sich" und nimmt ihn mit sich.
Sein Vater wendet sich hingegen entsetzt von ihm ab. Nach der Blendung
Glosters treffen beide wieder aufeinander, und nun wird ihm der erst verstoßene,
später verleugnete Edgar zur Hilfe und zum Lebensretter beim versuchten
Freitod. Er führt seinen Vater scheinbar in den gewünschten Tod, doch
der Sprung von der vermeintlichen Klippe führt ihn zur Einsicht sein Leben
zu ertragen "bis es selbst aufschreit: Genug!". Auch hier wieder
als musikalisches Symbol der menschlichen Einsicht einfachste musikalische
Mittel, die Harmonie fis-moll in den Kontrabässen, die mit dem Auftauchen
anderer Gedanken wieder in Vierteltönen verwischt.
Aber so bewußt Edgar seinen Wahnsinn als Überlebenschance spielt und als
Hilfsmöglichkeit für seinen Vater nutzt, um ihm auch sein Unrecht zu zeigen,
sind die kompositorischen Mittel für ihn nicht so lyrisch wie für die
"musikalische Schwester".
Mit dem ersten Monolog des Edmund, des Halbbruders Edgars und unehelichen
Sohnes Glosters, bricht die Brutalität zum ersten Mal unverhohlen hervor
und Reimann zieht alle Register der Härte und Schärfe, die später mit
der Blendung Glosters in noch gesteigerter Form das Stück umklammern.
Er verleumdet seinen Bruder bei seinem "leichtgläubigen" Vater und zielt
ganz bewußt auf Englands Thron. Um sein Ziel zu erreichen, verspricht
er Goneril und Regan gleichzeitig seine Liebe. Regan belohnt dies, indem
sie ihm die Führung des Heeres überträgt. In spielerischer Weise vollzieht
sich zwischen dem Graf von Gloster und seinen Söhnen ein ähnliches Schicksal,
wie es Lear mit seinen Töchtern ergeht.
Benötigt Lear seinen Wahnsinn, um die Welt und seine Taten zu erkennen,
so muß Graf von Gloster blind werden, um zu sehen, was wirklich geschieht.
Um die Parallelität zwischen den beiden Handlungsverläufen deutlich zu
machen, wählt Reimann auch hier die tiefen Streicher als Charakteristikum
für Gloster; strukturell ergibt sich zwangsläufig auch die Vereinfachung
des musikalischen Materials bis hin zum oben erwähnten fis-moll-Akkord.
Unmittelbar nach der Blendung Glosters sind ebenfalls nur die Kontrabässe
zu hören; dies ist durch die Gloster zugeordneten Instrumente als Beginn
des Sehens gemeint, doch stellt sich die reine Harmonie erst mit größerer
Erkenntnis ein. Zunächst erscheint ihm "alles Nacht und trostlos", wobei
als deutliches musikalisches Zeichen nach der Blendung ein Kanon aus Edgars
Reihe erklingt. "Es kündigt sich Edgar als Erlöser an." (Reimann)
Die Funktion des Orchesters als Spiegel des Seelenzustands Lears wird
durch insgesamt 5 Zwischenspiele außerordentlich wichtig.
Für das erste Zwischenspiel hat Reimann selbst lange nach dem richtigen
Tempo gesucht. Es ist ein emphatisch hochgetriebenes Seelengewitter, welches
in den besoffenen, haltlosen Männerchor des Gefolges von Lear mündet.
Die Hilf- und Haltlosigkeit Lears wird in den kreisenden chromatischen
Figuren und den Glissandi des Orchesters hörbar.
Das zweite Zwischenspiel hat keine Akkordverbindungen mehr. Es baut sich
durch den Sturm, der wie oben erwähnt sich schon unmerklich wie eine unsichtbare
Krankheit der Seele entwickelt hat, eine Reaktion des Kosmos auf. Alles
hat seinen festen Platz verloren. Die Einsamkeit des Lear wird in der
Masse des Klanges dargestellt. Strukturell ist dieser musikalische Sturm
auf Lears Motiv der Sehnsucht zum ewigen Schlaf aufgebaut. Er beginnt
sich den Tod zu wünschen.
Im dritten Zwischenspiel wird die Erkenntnis Lears gespiegelt, daß er
erstmals in seinem Leben jemanden bedauern kann, Mitleid entwickelt. Edgar
ist ihm begegnet, der im Gegensatz zu Lear seinen Wahnsinn spielt um zu
überleben, während Lear wahnsinnig wird, um sterben zu können.
Hier hat Lears Menschwerdungsprozeß bereits eine wichtige Stufe erreicht,
die durch die Einfachheit des im Wesentlichen auf ein aus der Tiefe der
Erkenntnis kommenden Baßflötensolos aufgebaut ist. Die Melodie von Lears
Schlußmonolog erscheint hier erstmalig.
Das vierte Zwischenspiel stellt die Brutalität von Macht dar. Es bezieht
sich mit seinen schmerzhaften Schlagzeugattacken sowohl auf Lears Verbrechen
der Macht als auf die Verbrechen seiner Töchter, die nun auf grausame
Weise Macht ausüben.
Das fünfte Zwischenspiel schließlich ist mit seinem Bläserakkord, der
allmählich chromatisch abwärts geführt wird, eine Traummusik. Eine Erinnerung
an die Wahrheiten des Narren, die Lear nun erkennt. Das Zwischenspiel
führt zum Ruhepunkt der Liebe zwischen Lear und seiner verstoßenen Tochter
Cordelia. Zunächst aber - bis die beiden sich wirklich finden - ist es
nur ein Duo zweier Soloviolinen. Dann wird es ein wirkliches Duett und
für einen kurzen Moment treffen sich Vater und Tochter musikalisch tatsächlich.
Cordelia wird von Anfang an mit der musikalischen Einfachheit gezeichnet,
die für Reimann der Ausdruck wahrer Menschlichkeit ist, zu der sich Lear
durch seinen Leidensweg erst hinentwickeln muß.
Mit dieser vorsichtigen Hoffnung verklingt das Werk in den himmlischen
Farben der Flageoletts der 48 Solostreicher.
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