Opera & Operette

Aribert Reimann: Lear

 

© 2004 Hartmut Haenchen

 

Selten sind Werke in unserem Jahrhundert über die Uraufführung hinaus so oft nachgespielt worden wie Aribert Reimanns "Lear". Wurde auch anfangs kritisch vermerkt, dass die Musik im schlechten Sinne "Hörspielmusik" sei, so hat sich gerade hier bei näherem Hinhören und Hineinlesen in die Partitur gezeigt, dass die Kraft des Werkes in der Komposition liegt und es auch dem Librettisten Claus H. Henneberg nicht darum ging vordergründig Stück zu sehen, so streng er sich trotz aller notwendigen Kürzungen an das Original bzw. seine unromantische, harte und klare Übersetzung von Eschenburg gehalten hat. Das gemeinsame Anliegen war, einen heute gültigen Opernstoff zu finden: Henneberg hat in feinsinniger Weise erkannt, was die Musik sagen kann und was beim Wort bleiben muß.

Konsequenterweise vertont auch Reimann den Text im Sinne von "componere" erst in dem Moment, wo das Wort den inneren Zustand des Lear nicht mehr ausreichend charakterisieren kann. Die ersten Worte der Reichsaufteilung unter seinen Töchtern sind auf einer Tonhöhe in teilweise freien Rhythmen geschrieben, und in dem Moment, wo die Aufteilung bekanntgegeben ist, beginnt der Weg der Menschwerdung des Lear: hier setzt auch die Musik ein und umkreist ihn. Die "Verstrickung" in seinen eigenen Irrtum, dass er Liebe mit Machtvergabe erkaufen und dabei die lästigen Pflichten der Machtausübung abgeben kann, ist der Anfang eines Leidensweges, den er antreten muß, um im schweren Prozeß der wahnsinnigen Erkenntnis einsichtig und menschlich zu werden. Diese Einsatzmusik der tiefen Streicher wird im Stück ein Teil von Lear und haftet an ihm zunächst als innerer Klang, der sich mit seinem Wahnsinn - so, wie dieser nach außen deutlich wird - auch nach außen kehrt und zum Sturm wird. "Schlaf" und "Sturm" stehen als Eck-Begriffe für diesen Vorgang. Der Einsatz dieser "Sturm-Reihe" geschieht fast unmerklich im 6. Kontrabaß auf dem Tone "es", nachdem Lears zweite Tochter Regan auf seine Worte mit einem "Schluß der Heulerei" reagiert.

Durch Vierteltöne gewinnt Reimann die Möglichkeit, für die Charakterisierung der inneren Auflösung seines Machtstrebens und zur Darstellung der größten Einsamkeit in einem vielstimmigen Dröhnen eine rotierende Klangschicht von 2 x 24 Tönen über 7 Oktaven aufzubauen. Der Sturm wird aber nicht als aüßeres Ereignis dargestellt, Lear beginnt nach Innen zu sehen und seine bisherigen Taten werden ihm bewußt.

Lears Wahnsinn gibt dem Komponisten die Chance, die Frage nach der Einsamkeit von Menschen, die Macht benutzen zur musikalischen Gestaltungsmöglichkeit zu machen. Nach der erschreckenden Einsamkeit der Sturmszene wird der Menschwerdungsprozeß durch die Vereinfachung der musikalischen Strukturen ausgedrückt und führt über das sensitive Baßflöten-Zwischenspiel der inneren Einsamkeit mit gleichem musikalischen Material zum Schlußmonolog. Dieser endet mit Lears Wort "seht...", nachdem er selbst sehend geworden ist. Auch wenn der Schluß durch andere Personen verdeutlicht, dass Macht mit Menschlichkeit eine Illusion bleibt, zeichnet das Orchesternachspiel die Vision einer neuen Welt, ein "Aufsteigen in den Kosmos". Logischerweise wird dazu kein neues musikalisches Material eingeführt, sondern diese Vision ergibt sich aus der Veränderung der Sturmreihe als Ergebnis der menschlichen Veränderungen in Lear.

Die Worte Lears in seinem Erkenntnisprozeß, "Wir kommen weinend auf die Welt, weil wir auf diese Narrenbühne mußten", sind nicht nur Wortverbindung zu seinem Narren, den er so lange braucht, wie er selbst nicht närrisch (wahnsinnig) geworden ist. Reimann zeichnet hier, als Konsequenz zum musikalischen Vorgang bei Lears Tragödie, den Narren als einzig Wissenden und Sehenden von Anfang an mit fast nostalgischer Zwölftönigkeit, die ein Streichquartett vorträgt. Und so, wie seine Narrenrolle immer weniger notwendig wird, vereinfacht sich seine Musik ebenfalls im gleichen Masse.

Seine fast kinderliedhaften Gesänge werden am Schluß des ersten Teils vom Streichquartett fast homophon begleitet. Der Narr kann seine Narrheit ablegen. In diesem Moment steht seine Einfachheit als Kontrast zu zunehmender Verwirrung der anderen Figuren. Aber ein Wahnsinniger braucht keinen Narren mehr. Er verstummt.

Lear fordert für die Reichsaufteilung seine drei Töchter auf, ihre Liebe gegenüber ihrem Vater auszudrücken. Zur Heuchelei und zum Zweckdenken erzogen, antworten sie nun.

Goneril, als älteste Tochter, beginnt mit dem Bewußtsein um ihr Recht als Älteste, wohl aber auch wissend, dass die größte Zuneigung des Vaters seiner jüngsten Tochter gehört. Die musikalische Charakteristik ist hier aber trotz Übertreibung der Liebeserklärung deutlich. Goneril hat ganz starre und feste Machtabsichten, hat die Brutalität am Hofe ihres Vaters ganz zu eigen gemacht. So sind die musikalischen Mittel die Härte großer Intervallsprünge, Schärfe des Ausdrucks, meißelnde Schläge von Akkordblöcken und Schlagzeugeinwürfen. Ihrer gradlinig-bösartigen Haltung entspricht auch, dass sie ihre Schwester Regan vergiftet, sich von ihrem feigen Mann Albany trennt (eine zwiespältige, opportunistische Figur, der am Schluß durch immer abwartende Haltung die Möglichkeit zur Macht offensteht), wenn sie glaubt, dass ein anderer ihr mehr Macht bringen wird. Sie hat nach dem Fehlschlag ihrer Pläne auch die Kraft, sich selbst umzubringen, weil sie nur ihrem Machtstreben nach gelebt hat.

Die zweite Tochter Regan kann nicht mit den Rechten der Ältesten rechnen, sondern muß ständig versuchen, Ihre brutal-gradlinige Schwester zu übertrumpfen. Die Nervosität, die Macht durch einen Fehler oder durch eine Nachgiebigkeit zu verspielen, wird zur musikalischen Charakteristik. Ihre Stimmführung - große Virtuosität verlangend - ist gekennzeichnet von kleinen, unruhigen Melismen, Vorschlägen, zersplitterten Tonfolgen, die bewußt die mehr statischen Gesänge von Goneril übertreffen wollen. Das Orchester nimmt diese Hysterie mit schneller Holzbläser-Melismatik und Ponticello-Farben der Streicher auf. Ihre ewige Angst um den Machtverlust macht sie noch brutaler als ihre Schwester, sie erhöht die von Goneril verhängte Strafe für Lears Getreuen Kent, drückt Gloster selbst noch das zweite Auge aus, als ihr brutaler, skrupelloser Mann Cornwall von einem mit Gloster fühlenden Knecht erschlagen wird, nachdem Cornwall Glosters erstes Auge ausriß.

Auffallend ist, dass fast alle Szenen mit Regan und Goneril in ungeraden Taktarten stehen; ebenfalls alle Szenen, in denen die Wirkungen des Handelns beider Schwestern spürbar werden. Lediglich bei ihrem Duett ergibt sich eine Scheinharmonie in gerader Taktart, indem sie gegenseitig Glaubhaftigkeit vortäuschen wollen. Reimann zeichnet aber deutlich, dass sich die Ziele der Schwestern nur solange annähern, wie eine von der anderen glaubt, die Hilfe noch zu brauchen. Die Tonfolgen des nahezu historischen Racheduetten folgenden Formmodells treffen einander nie ganz und sind rhythmisch stets versetzt. Lediglich bei den Worten "Der Vater, der mit seiner Säuferhorde uns immer noch Gehorsam abverlangt, der uns zur Last fällt, den jagen wir davon" treffen einander Töne und Rhythmus wirklich. Bei "Wir starken Schwestern" entzweien sich die Stimmen schon wieder, das Ende ahnen lassend.

"Wer Fehler entdeckt, wird am Ende verlacht", singt die jüngste Tochter Lears, Cordelia. Sie handelt wie viele junge Menschen heute, verweigert sich einfach und bietet damit keine ernstzunehmende Gegenposition. Ihre Sprachlosigkeit deutet sich nicht nur in ihrer Antwort auf Lears Frage nach der Tochterliebe an, von der Lear die Machtverteilung abhängig macht. Nach der Verstoßung durch den Vater versucht sie sich auszudrücken, und Reimann gestaltet die Worte "Wenn ich die glatte Kunst zu reden nicht verstehe, bin ich froh" als hilfloses Stammeln. In den anderen Szenen erhält Cordelia gemäß ihren menschlichen Einsichten eine lyrisch abgerundete Musik, die ihrer subjektiven Ehrlichkeit entspricht. Dass sie schließlich als Eroberin zurückkommt, nimmt weder auf den hier gezeigten Handlungsverlauf noch auf ihre Charakterisierung einen wesentlichen Einfluß, da sie selbst Opfer wird. Sie erscheint vor allem als mögliche Eretterin Lears. Dort liegt auch die innere Verwandtschaft zu Edgar, dem ältesten und ehelichen Sohn von Gloster, einer zentralen Figur der fast als Spiegel zu bezeichnenden Parallelhandlung.

Edgar und Cordelia nehmen die Erniedrigungen und Demütigungen auf sich. Dadurch wird erklärbar, warum - indem sie dieses Kreuz auf sich nehmen - die Reihen, die Reimann dafür gefunden hat, einander in Kreuzform entsprechen und auch mit dem anderen Menschen, der die Last seines Königs trägt, dem Narren, verwandt sind. So ist es folgerichtig, dass diese Reihe als Cluster auftaucht, wenn Lear zu der Erkenntnis kommt: "Um mich ist es kalt geworden." Er fängt an, seine Last bewußt zu tragen.

Edgar wird wie Cordelia von seinem Vater verstoßen, weil sein Halbbruder Edmund ihn auf die billigste Weise verleumdet und der Vater in seiner gekränkten Eitelkeit die Verleumdung ungeprüft glaubt. Er flüchtet sich in einen (gespielten) Wahnsinn. Um dies artifiziell auszudrücken, verlangt Reimann für diese Szenen die Lage eines Counter-Tenors; damit wird das Künstliche dieses Wahnsinns deutlich. Hier spielt der klangliche Reiz eines orientalischen Muezzin mit herein. Edgar drückt dieses bewußte Spielen mit dem Wahnsinn aus, indem er sagt: "Habe ich mein Leben retten können, nahm ich ärmlichste Gestalt an." Beim Aufeinandertreffen mit Lear findet sich ein sofortiges Verständnis zwischen diesen Formen des Wahnsinns.

Lear erkennt ihn als "das Geschöpf an sich" und nimmt ihn mit sich. Sein Vater wendet sich hingegen entsetzt von ihm ab. Nach der Blendung Glosters treffen beide wieder aufeinander, und nun wird ihm der erst verstoßene, später verleugnete Edgar zur Hilfe und zum Lebensretter beim versuchten Freitod. Er führt seinen Vater scheinbar in den gewünschten Tod, doch der Sprung von der vermeintlichen Klippe führt ihn zur Einsicht sein Leben zu ertragen "bis es selbst aufschreit: Genug!". Auch hier wieder als musikalisches Symbol der menschlichen Einsicht einfachste musikalische Mittel, die Harmonie fis-moll in den Kontrabässen, die mit dem Auftauchen anderer Gedanken wieder in Vierteltönen verwischt.

Aber so bewußt Edgar seinen Wahnsinn als Überlebenschance spielt und als Hilfsmöglichkeit für seinen Vater nutzt, um ihm auch sein Unrecht zu zeigen, sind die kompositorischen Mittel für ihn nicht so lyrisch wie für die "musikalische Schwester".

Mit dem ersten Monolog des Edmund, des Halbbruders Edgars und unehelichen Sohnes Glosters, bricht die Brutalität zum ersten Mal unverhohlen hervor und Reimann zieht alle Register der Härte und Schärfe, die später mit der Blendung Glosters in noch gesteigerter Form das Stück umklammern. Er verleumdet seinen Bruder bei seinem "leichtgläubigen" Vater und zielt ganz bewußt auf Englands Thron. Um sein Ziel zu erreichen, verspricht er Goneril und Regan gleichzeitig seine Liebe. Regan belohnt dies, indem sie ihm die Führung des Heeres überträgt. In spielerischer Weise vollzieht sich zwischen dem Graf von Gloster und seinen Söhnen ein ähnliches Schicksal, wie es Lear mit seinen Töchtern ergeht.

Benötigt Lear seinen Wahnsinn, um die Welt und seine Taten zu erkennen, so muß Graf von Gloster blind werden, um zu sehen, was wirklich geschieht. Um die Parallelität zwischen den beiden Handlungsverläufen deutlich zu machen, wählt Reimann auch hier die tiefen Streicher als Charakteristikum für Gloster; strukturell ergibt sich zwangsläufig auch die Vereinfachung des musikalischen Materials bis hin zum oben erwähnten fis-moll-Akkord. Unmittelbar nach der Blendung Glosters sind ebenfalls nur die Kontrabässe zu hören; dies ist durch die Gloster zugeordneten Instrumente als Beginn des Sehens gemeint, doch stellt sich die reine Harmonie erst mit größerer Erkenntnis ein. Zunächst erscheint ihm "alles Nacht und trostlos", wobei als deutliches musikalisches Zeichen nach der Blendung ein Kanon aus Edgars Reihe erklingt. "Es kündigt sich Edgar als Erlöser an." (Reimann)

Die Funktion des Orchesters als Spiegel des Seelenzustands Lears wird durch insgesamt 5 Zwischenspiele außerordentlich wichtig.
Für das erste Zwischenspiel hat Reimann selbst lange nach dem richtigen Tempo gesucht. Es ist ein emphatisch hochgetriebenes Seelengewitter, welches in den besoffenen, haltlosen Männerchor des Gefolges von Lear mündet. Die Hilf- und Haltlosigkeit Lears wird in den kreisenden chromatischen Figuren und den Glissandi des Orchesters hörbar.

Das zweite Zwischenspiel hat keine Akkordverbindungen mehr. Es baut sich durch den Sturm, der wie oben erwähnt sich schon unmerklich wie eine unsichtbare Krankheit der Seele entwickelt hat, eine Reaktion des Kosmos auf. Alles hat seinen festen Platz verloren. Die Einsamkeit des Lear wird in der Masse des Klanges dargestellt. Strukturell ist dieser musikalische Sturm auf Lears Motiv der Sehnsucht zum ewigen Schlaf aufgebaut. Er beginnt sich den Tod zu wünschen.

Im dritten Zwischenspiel wird die Erkenntnis Lears gespiegelt, daß er erstmals in seinem Leben jemanden bedauern kann, Mitleid entwickelt. Edgar ist ihm begegnet, der im Gegensatz zu Lear seinen Wahnsinn spielt um zu überleben, während Lear wahnsinnig wird, um sterben zu können.
Hier hat Lears Menschwerdungsprozeß bereits eine wichtige Stufe erreicht, die durch die Einfachheit des im Wesentlichen auf ein aus der Tiefe der Erkenntnis kommenden Baßflötensolos aufgebaut ist. Die Melodie von Lears Schlußmonolog erscheint hier erstmalig.

Das vierte Zwischenspiel stellt die Brutalität von Macht dar. Es bezieht sich mit seinen schmerzhaften Schlagzeugattacken sowohl auf Lears Verbrechen der Macht als auf die Verbrechen seiner Töchter, die nun auf grausame Weise Macht ausüben.

Das fünfte Zwischenspiel schließlich ist mit seinem Bläserakkord, der allmählich chromatisch abwärts geführt wird, eine Traummusik. Eine Erinnerung an die Wahrheiten des Narren, die Lear nun erkennt. Das Zwischenspiel führt zum Ruhepunkt der Liebe zwischen Lear und seiner verstoßenen Tochter Cordelia. Zunächst aber - bis die beiden sich wirklich finden - ist es nur ein Duo zweier Soloviolinen. Dann wird es ein wirkliches Duett und für einen kurzen Moment treffen sich Vater und Tochter musikalisch tatsächlich. Cordelia wird von Anfang an mit der musikalischen Einfachheit gezeichnet, die für Reimann der Ausdruck wahrer Menschlichkeit ist, zu der sich Lear durch seinen Leidensweg erst hinentwickeln muß.
Mit dieser vorsichtigen Hoffnung verklingt das Werk in den himmlischen Farben der Flageoletts der 48 Solostreicher.


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